Die folgenden Auszüge stammen aus einem 1978 verfaßten Essay des Schriftstellers, vormaligen Regimekritikers und heutigen Präsidenten der tschechischen Republik, Václav Havel.
Obwohl er seine Gedanken anhand der Tschechoslowakei der 70er Jahre entwickelt hat, sind sie auch mit Blick auf die hier präsentierten Bilder interessant. Manches, das Havel beschreibt, mag in der Zeit, als Helwig-Wilson fotografierte, noch nicht so ausgeprägt gewesen sein oder sich gerade erst stärker entwickelt haben, wie z.B. die historische Begegnung der Diktatur mit der Konsumgesellschaft (siehe Bild 30).
Auf seine erzählende Analyse der Wirkungsweisen von Ideologie und Propaganda wird hier wegen ihrer Prägnanz, ihres sprachlichen Reizes und ihrer Komplexität zurückgegriffen. Der Text kann zum tieferen Nachdenken über die Fotos insbesondere der Rubriken "Parolen" und "Mach Mit!" anregen - selbst wenn das klare Gegenüberstellen von Lüge und Wahrheit, Identität und Identitätsverfälschung den postmodernen Geschmack irritieren könnte.

Hinweis: Havel spricht für die Spätphase der kommunistischen Diktatur vom posttotalitären Regime, verwendet diesen Begriff also in einer völlig anderen Wortbedeutung, als man sie heute mit "posttotalitär" verbindet.

 

Auszug aus: Václav Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben
(Originaltitel: "Die Macht der Ohnmächtigen", 1978, hier zitiert nach der deutschen Ausgabe Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2000)

"Ein Leiter eines Gemüseladens plazierte im Schaufenster zwischen Zwiebeln und Möhren das Spruchband: "Proletarier aller Länder, vereinigt euch!".
Warum hat er das getan? Was wollte er damit der Welt mitteilen? Ist er wirklich persönlich so für die Idee der Vereinigung der Proletarier aller Länder begeistert? Geht seine Begeisterung so weit, daß er das unwiderstehliche Bedürfnis hatte, die Öffentlichkeit mit seinem Ideal bekannt zu machen? Hat er wirklich irgendwann - und wenn auch nur einen Moment - darüber nachgedacht, wie sich so eine Vereinigung verwirklichen sollte und was sie bedeuten würde?
Ich glaube, daß man mit Recht voraussetzen kann, daß die überwiegende Mehrheit der Gemüsehändler über die Texte der Spruchbänder in ihren Schaufenstern im Grunde genommen nicht nachdenkt, geschweige denn, daß sie damit Vergrößert Bild 29 +  Bildunterschrift und Kommentareetwas von ihrer Weltanschauung zum Ausdruck bringen wollen.
Dieses Spruchband wurde unserem Gemüsehändler zusammen mit Zwiebeln und Möhren vom Betrieb ausgeliefert, und er hängte es einfach deshalb in das Schaufenster, weil er das schon seit Jahren so tut, weil das alle tun, weil es so sein muß. Wenn er es nicht getan hätte, könnte er Schwierigkeiten bekommen; man könnte ihm vorhalten, daß er keine "Dekoration" hat; irgend jemand könnte ihn sogar der Illoyalität bezichtigen. Er hat es deshalb getan, weil es "dazu gehört", wenn man durch das Leben kommen will; weil das eine von Tausenden Kleinigkeiten ist, die ihm ein relativ ruhiges Leben "im Einklang mit der Gesellschaft" sichern.
Wie wir sehen, ist dem Gemüsehändler der semantische Inhalt des ausgestellten Spruchbands gleichgültig, und er stellt es nicht deshalb in das Schaufenster, weil er sich persönlich danach gesehnt hätte, seine Idee der Öffentlichkeit zu verkünden.
Das bedeutet freilich nicht, daß seine Handlung kein Motiv und keinen Sinn hätte und daß er mit seinen Parolen niemandem etwas mitteilt. Diese Parole hat die Funktion eines Zeichens. Als solches enthält sie eine zwar versteckte, aber ganz bestimmte Mitteilung. Verbal könnte man sie etwas so formulieren:
Vergrößert Bild 30 +  Bildunterschrift und KommentareIch, der Gemüsehändler XY, bin hier und weiß, was ich zu tun habe; ich benehme mich so, wie man es von mir erwartet; auf mich ist Verlaß, und man kann mir nichts vorwerfen; ich bin gehorsam und habe deshalb das Recht auf ein ruhiges Leben. Diese Mitteilung hat selbstverständlich einen Adressaten: Sie ist "nach oben" gerichtet, an die Vorgesetzten des Gemüsehändlers, und ist zugleich ein Schild, hinter dem sich der Gemüsehändler vor eventuellen Denunzianten versteckt. Durch ihre wirkliche Bedeutung ist also die Parole direkt in der menschlichen Existenz des Gemüsehändlers verankert: sie spiegelt sein existentielles Interesse. Was für ein Interesse ist es aber?
Beachten wir: Würde man dem Gemüsehändler befehlen, die Parole: "Ich habe Angst und bin deshalb bedingungslos Vergrößert Bild 31 +  Bildunterschrift und Kommentaregehorsam" in das Schaufenster zu stellen, würde er sich ihrem semantischen Inhalt gegenüber bei weitem nicht so lax verhalten. Obwohl eben dieser Inhalt sich mit der verborgenen Bedeutung des Spruchbandes im Schaufenster diesmal absolut deckt. Der Gemüsehändler würde sich wahrscheinlich weigern, eine so unzweideutige Nachricht über seine Erniedrigung im Schaufenster auszustellen, es wäre ihm peinlich, er würde sich schämen. Selbstverständlich - er ist doch ein Mensch und hat folglich ein Gefühl für menschliche Würde.
Um diese Komplikation zu überwinden, muß sein Loyalitätsbeweis die Form eines Zeichens haben, das zumindest durch seine Textoberfläche auf irgendwelche höheren Ebenen der uneigennützigen Überzeugung hinweist. Man muß dem Gemüsehändler die Gelegenheit geben, daß er sich sagen kann: "Warum sollen sich eigentlich die Proletarier aller Länder nicht vereinigen?" Das Zeichen hilft also, die "niedrigen" Fundamente seines Gehorsams und somit auch die "niedrigen" Fundamente der Macht vor dem Menschen zu verstecken. Er versteckt sie hinter der Fassade des "Höheren". Dieses "Höhere" ist die Ideologie." (S.14f)

Wir haben gesehen, daß die eigentliche Bedeutung des Spruchbandes des Gemüsehändlers überhaupt keinen Vergrößert Bild 32 +  Bildunterschrift und KommentareZusammenhang mit dem Text der Parole hat. Trotzdem ist diese eigentliche Bedeutung absolut klar und allgemein verständlich. Das ergibt sich daraus, daß alle den gegebenen Code kennen: Der Gemüsehändler deklarierte seine Loyalität - es blieb ihm auch nichts anderes übrig, wenn er wollte, daß die Proklamierung angenommen wurde - auf die einzige Art, auf die die gesellschaftliche Macht hörte: Nämlich so, daß er das vorgeschriebene Ritual akzeptierte, daß er den "Schein" als Wirklichkeit akzeptierte, daß er sich den "Spielregeln" angeschlossen hat. Dadurch freilich, daß er sie angenommen hat, kam er selbst ins Spiel, wurde zum Mitspieler, ermöglichte, daß das Spiel weiter gespielt wird, ermöglichte, daß es weiterexistierte.
War die Ideologie ursprünglich die "Brücke" zwischen dem System und dem Menschen "als Menschen", dann wird sie in diesem Moment, wo der Mensch diese Brücke betritt, zugleich zu einer Brücke zwischen dem System und dem Menschen als Bestandteil des Systems. Hilft also die Ideologie ursprünglich - durch ihre Wirkung "nach außen"-, die Macht als ihr psychologisches "Alibi" zu konstituieren, dann konstituiert sie von dem Moment an, wo sie akzeptiert wird, zugleich die Macht auch "nach innen", als ihr direkter Bestandteil: Sie fängt an, als das Hauptinstrument der rituellen Kommunikation innerhalb der Macht zu fungieren." (S.18f)

Warum mußte eigentlich unser Gemüsehändler sein Loyalitätsbekenntnis im Schaufenster aufstellen? Hat er denn seinen Gehorsam nicht schon zur Genüge intern oder halböffentlich bewiesen? Er hat doch bei der Gewerkschaftsversammlung immer so gestimmt, wie er sollte; er hat sich verschiedenen Wettbewerben angeschlossen; er hat ordentlich an den Wahlen teilgenommen... Warum muß er sich noch öffentlich erklären? Vergrößert Bild 33 +  Bildunterschrift und KommentareMenschen, die an seinem Schaufenster vorbeigehen, bleiben doch bestimmt nicht deshalb stehen, um zu lesen, daß sich die Proletarier aller Länder, der Meinung des Gemüsehändlers nach, vereinigen sollen. Sie lesen die Parole gar nicht, ja man kann voraussetzen, daß sie sie nicht einmal sehen: Wenn man eine Frau, die vor dem Schaufenster stehengeblieben ist, fragen würde, was darin war, wird sie mit Sicherheit wissen, ob es heute Tomaten gibt, es wird ihr jedoch mit höchster Wahrscheinlichkeit gar nicht bewußt sein, daß dort auch ein Spruchband hing, und noch weniger wird sie wissen, was für eine Parole darauf stand.
Vergrößert Bild 34 +  Bildunterschrift und KommentareDas Erfordernis, daß sich der Gemüsehändler öffentlich äußert, scheint sinnlos zu sein. Es ist aber nicht sinnlos. Die Menschen beachten zwar seinen Slogan nicht, sie beachten ihn aber deshalb nicht, weil solche Parolen auch in anderen Schaufenstern, auf Dächern, an Masten - einfach überall hängen: weil sie so etwas wie das Panorama ihres Alltags bilden. Und der Slogan des Gemüsehändlers ist nichts anderes als ein kleiner Bestandteil von diesem größeren Panorama. Der Grund, aus dem der Gemüsehändler das Spruchband im Schaufenster ausstellt, ist also nicht die Hoffnung, daß es jemand lesen wird und daß es jemanden überzeugt, sondern ein ganz anderer: Es soll zusammen mit Tausenden anderer Spruchbänder eben jenes Panorama schaffen, das allen bekannt ist. Ein Panorama, das freilich auch seine versteckte Bedeutung hat - es erinnert den Menschen daran, wo er lebt und was von ihm erwartet wird. Es teilt ihm mit, was alle anderen tun, und deutet ihm an, was auch er tun muß, wenn er sich nicht ausschließen, nicht in die Isolation geraten, wenn er nicht zum "Außenseiter der Gesellschaft" werden, die "Spielregeln" verletzen und somit riskieren will, daß er seine "Ruhe" und "Sicherheit" verliert.
Die Frau, die sich dem Spruchband des Gemüsehändlers gegenüber so gleichgültig benommen hat, hat vielleicht erst vor einer Stunde ein ähnliches Spruchband auf dem Gang des Amts, wo sie arbeitet, aufgehängt. Sie hat es mehr oder weniger mechanisch getan, genauso wie unser Gemüsehändler, und zwar eben deshalb, weil sie es auf dem Hintergrund des allgemeinen Panoramas und mit Rücksicht auf dieses Panorama getan hat, desselben Panoramas, zu dem auch das Schaufenster unseres Gemüsehändlers gehört. Wenn der Gemüsehändler zu ihr ins Amt kommt, wird er ihr Spruchband genauso wenig beachten, wie sie das seine beachtete. Trotzdem aber bedingen sich ihre Spruchbänder gegenseitig: Beide wurden mit Rücksicht auf das allgemeine Panorama aufgehängt und, sozusagen, Vergrößert Bild 35 +  Bildunterschrift und Kommentareunter seinem Diktat. Gleichzeitig aber bilden beide Spruchbänder dieses Panorama, verwirklichen also auch sein Diktat. Der Gemüsehändler und die Amtfrau passen sich den Verhältnissen an - genau dadurch aber konstituieren sie beide diese Verhältnisse. Sie tun das, was man allgemein tut, was man tun soll, was man tun muß - und dadurch, daß sie es tun, bestätigen sie, daß man es wirklich tun soll und muß. Sie erfüllen eine gewisse Forderung, und somit erheben sie auch selbst diese Forderung. ...Ihre gegenseitige Gleichgültigkeit den Parolen gegenüber ist nur Trug. In Wirklichkeit zwingt einer den anderen durch sein Spruchband, das vorgegebene Spiel zu akzeptieren und dadurch auch die gegebene Macht zu bestätigen....Beide sind...Opfer des Systems und seine Instrumente." (S.22ff)

Wird eine ganze Kreisstadt mit Spruchbänder behängt, die niemand liest, ist das in erster Linie eine Art persönlicher Mitteilung des Kreissekretärs an den Landessekretär. Es ist aber zugleich noch etwas mehr - ein Beispiel für das Prinzip der gesellschaftlichen "Autototalität". Es gehört zum Wesen des posttotalitären Systems, daß es jeden Vergrößert Bild 36 +  Bildunterschrift und KommentareMenschen in seine Machtstruktur einbezieht. Freilich nicht darum, daß er in ihr seine menschliche Identität realisiert, sondern darum, daß er sie zugunsten der "Identität des Systems" aufgibt, daß er zum Mitträger der allgemeinen "Eigenbewegung", zum Diener ihres Selbstzwecks wird, damit er sich an der Verantwortung für diese "Eigenbewegung" beteiligt, damit er in sie hineingeschleppt und mit ihr verflochten wird, wie Faust mit Mephisto. Nicht nur das - damit er durch diese Verflochtenheit die allgemeine Norm mitformt und auf seine Mitbürger Druck ausübt. Noch mehr - damit er sich in dieser seiner Verflochtenheit einnistet, damit er sich mit ihr identifiziert, als sei sie etwas Selbstverständliches und Notwendiges, damit er schließlich von allein seine evenutelle Nichtverflochtenheit als Abnormalität, als Frechheit, als einen Angriff gegen ihn selbst, als jene "Isolierung von der Gesellschaft" betrachtet. Indem das posttotalitäre System auf diese Art alle in seine Machtstruktur einbezieht, macht es aus ihnen Instrumente der gegenseitigen Totalität..." (S.24)

"...Es geht also schon lange nicht mehr um einen Konflikt zweier Identitäten. Es geht um etwas viel Schlimmeres - um die Krise der Identität selbst. Sehr vereinfacht könnte man sagen, daß das posttotalitäre System auf dem Boden der historischen Begegnung der Diktatur mit der Konsumgesellschaft gewachsen ist." (S.26)


Helwig-Wilson hat zahlreiche Beispiele von Spruchbändern und anderen Beispielen von "Sichtagitation" aufgenommen. Bei dieser Auswahl war das maßgebliche Kriterium, besondere Beispiele aus den häufigsten Themen, nämlich Frieden und Abgrenzung vom Westen, aufzunehmen.
Die Grenzen zur Rubrik "Mach Mit!" sind dabei fließend.

 

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