"Kundgebung in Wittstock. 24.4.61"
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Bild 36: An der Hauswand im Hintergrund ist folgende Losung angebracht: "Unter der Führung der SED vereint mit Gramm und Millimeter / schlagen wir Adenauer, Strauss und Brandt und alle / imperialistischen Vertreter." Dieses erstaunliche Bündnis aus Masseinheiten und regierender Partei mag durch Bezug zu Technik und Naturwissenschaften auf den technischen und ökonomischen Fortschritt als erhofftem Bündnispartner im Wettbewerb der Systeme verweisen. Aber auch die Assoziation mit Wissenschaftlichkeit und Objektivität spielt herein und damit der Bezug zur propagandistischen Rede von der wissenschaftliche Weltanschauung des Marxismus/Leninismus sowie dem gesetzmäßigen Sieg des Sozialismus. Dass Konrad Adenauer (CDU), Franz-Josef Strauss (CSU) und Willy Brandt (SPD) pauschal als "imperialistische Vertreter" gehandelt werden, entspricht einem fast bis zum Ende der DDR offiziell vertretenen Feinbild, wonach zwischen den verschiedenen Parteien in der parlamentarischen Demokratie keine wesentlichen Unterschiede bestünden, sondern sie sämtlich die Interessen des Kapitals verträten - und dies nur unterschiedlich verschleierten.
Über den auf der Bühne versammelten Menschen steht die Losung "Wer den Frieden will, muss gegen den Krieg kämpfen". Interessant wird diese tautologische Aussage dadurch, dass es sich um die Umformung eines lateinischen Dictums handelt: "Wer den Frieden will, muß für den Krieg rüsten". Dieser Satz enthält eine klare Aussage, die auch der offiziellen Rechtfertigung der Wiederbewaffnung in der DDR entsprochen hätte: Bewaffnete Verteidigungsbereitschaft - zu friedlichen Zwecken. Die gewählte Losung kann demgegenüber als Zugeständnis an die Erinnerungen einer pazifistische Phase der unmittelbaren Nachkriegszeit gelesen werden, denn hier wird die Rüstung als solche nicht offen benannt. Das geflügelte Wort wird weiterhin dem für DDR-Parolen typischen schwarz-weiß-Muster angepaßt: "Für" wird nur mit positiven Werten verbunden, also für den Frieden, für den Sozialismus, etc. "Gegen den Krieg" kann zudem als Gegen die Imperialisten etc. gedacht werden. Schließlich trägt die Losung der Propaganda Rechnung, die als Friedensbeitrag nicht nur die bewaffnete Verteidigungsbereitschaft, sondern auch Produktionsleistungen, Schulleistungen usw. zählte. "Gegen den Krieg kämpfen" wäre demnach umfassender zu interpretieren als um des Friedens willen für den Krieg rüsten. Die Spannung des aussagekräftigeren Satzes "Wer den Frieden will, muß für den Krieg rüsten" wurde in der Losung nicht ausgesprochen. Ob nun die Scheu vor Offenheit und damit mögliche Kritik an der Remilitarisierung überwogen, der Wunsch, die Aussage mit der Anschauung, dass alle Leistungen in der DDR Kampf gegen den Krieg seien, zu befrachten, oder die Gewohnheit, nur für Gutes und gegen Böses (wie die genannten Imperialisten) zu sein - der Satz, der dasteht, ist entweder sinnleer und überflüssig; überfrachtet, subversiv oder lächerlich - je nach Standpunkt.