"Odergrenze in Frankfurt/Oder. April 1960."
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Bild 55: Die Schrift auf dem Schild lautet: "Achtung! Staatsgrenze. Fotografieren nicht gestattet"

 

Auszug aus: Vaclav Havel, Versuch in der Wahrheit zu leben (1978)
(Zitiert nach: deutsche Ausgabe Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2000 - siehe auch "Parolen")

"Stellen wir uns jetzt vor, daß sich unser Gemüsehändler eines Tages auflehnt und aufhört, Spruchbänder auszustellen, die er nur ausstellte, um sich Liebkind zu machen; daß er aufhört, zu Wahlen zu gehen, von denen er weiß, daß sie keine sind; daß er anfängt, bei Veranstaltungen das zu sagen, was er wirklich denkt und genug Kraft findet, sich mit denen zu solidarisieren, mit denen sich zu solidarisieren ihm sein Gewissen befiehlt.
Durch eine solche Rebellion wird der Gemüsehändler aus dem "Leben in Lüge" austreten, das Ritual ablehnen und die "Spielregeln" verletzen. Er wird wieder seine unterdrückte Identität und Würde finden, seine Freiheit verwirklichen. Seine Rebellion wird ein Versuch um das Leben in Wahrheit sein.
Die Rechnung wird ihm schnell präsentiert werden: Er wird seinen Posten verlieren und zum Beifahrer eines Lieferwagens degradiert werden. Sein Gehalt wird herabgesetzt. Seine Hoffnung, eine Urlaubsreise nach Bulgarien zu machen, wird er aufgeben müssen. Die weitere Schulausbildung seiner Kinder wird bedroht. Die Vorgesetzten werden ihn schikanieren, und seine Mitarbeiter werden sich über ihn wundern.
Die meisten Vollstrecker dieser Sanktionen werden freilich nicht aus ihrem eigenen authentischen Bedürfnis heraus handeln, sondern nur unter Druck der "Verhältnisse", derselben Verhältnisse, unter denen der Gemüsehändler früher seine Spruchbänder ausstellte....
Der Gemüsehändler beging nämlich nicht nur irgendein individuelles, in seiner Einmaligkeit abgeschlossenes Vergehen, sondern er hat etwas unvergleichlich Gewichtigeres getan: Dadurch, daß er die "Spielregeln" verletzte, hat er das Spiel als solches abgeschafft. Er hat entlarvt, daß es nur ein Spiel ist. Er hat die Welt des "Scheins" zerstört. ... Er hat die Fassade des "Erhabenen" durchbrochen und enthüllt die wirkliche, das heißt "niedere" Basis der Macht. Er sagt, daß der Kaiser nackt ist. Und da der Kaiser wirklich nackt ist, ist das, was passierte, unheimlich gefährlich...Durch seine Tat hat ...[er]... es jedem ermöglicht, hinter den Vorhang zu schauen." (S.27f)