Bild 55: Die Schrift auf dem Schild lautet: "Achtung! Staatsgrenze.
Fotografieren nicht gestattet"
Auszug
aus: Vaclav Havel, Versuch in der Wahrheit zu leben (1978)
(Zitiert
nach: deutsche Ausgabe Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2000 - siehe auch
"Parolen")
"Stellen wir uns jetzt vor, daß sich unser Gemüsehändler eines Tages
auflehnt und aufhört, Spruchbänder auszustellen, die er nur ausstellte,
um sich Liebkind zu machen; daß er aufhört, zu Wahlen zu gehen, von
denen er weiß, daß sie keine sind; daß er anfängt, bei Veranstaltungen
das zu sagen, was er wirklich denkt und genug Kraft findet, sich mit
denen zu solidarisieren, mit denen sich zu solidarisieren ihm sein
Gewissen befiehlt.
Durch eine solche Rebellion wird der Gemüsehändler aus dem "Leben
in Lüge" austreten, das Ritual ablehnen und die "Spielregeln" verletzen.
Er wird wieder seine unterdrückte Identität und Würde finden, seine
Freiheit verwirklichen. Seine Rebellion wird ein Versuch um das Leben
in Wahrheit sein.
Die Rechnung wird ihm schnell präsentiert werden: Er wird seinen Posten
verlieren und zum Beifahrer eines Lieferwagens degradiert werden.
Sein Gehalt wird herabgesetzt. Seine Hoffnung, eine Urlaubsreise nach
Bulgarien zu machen, wird er aufgeben müssen. Die weitere Schulausbildung
seiner Kinder wird bedroht. Die Vorgesetzten werden ihn schikanieren,
und seine Mitarbeiter werden sich über ihn wundern.
Die meisten Vollstrecker dieser Sanktionen werden freilich nicht aus
ihrem eigenen authentischen Bedürfnis heraus handeln, sondern nur
unter Druck der "Verhältnisse", derselben Verhältnisse, unter denen
der Gemüsehändler früher seine Spruchbänder ausstellte....
Der Gemüsehändler beging nämlich nicht nur irgendein individuelles,
in seiner Einmaligkeit abgeschlossenes Vergehen, sondern er hat etwas
unvergleichlich Gewichtigeres getan: Dadurch, daß er die "Spielregeln"
verletzte, hat er das Spiel als solches abgeschafft. Er hat entlarvt,
daß es nur ein Spiel ist. Er hat die Welt des "Scheins" zerstört.
... Er hat die Fassade des "Erhabenen" durchbrochen und enthüllt die
wirkliche, das heißt "niedere" Basis der Macht. Er sagt, daß der Kaiser
nackt ist. Und da der Kaiser wirklich nackt ist, ist das, was passierte,
unheimlich gefährlich...Durch seine Tat hat ...[er]... es jedem ermöglicht,
hinter den Vorhang zu schauen." (S.27f)