Trotz verschiedener Indizien traf
dies den Westen überraschend oder zumindest unvorbereitet. Sowohl die
Alliierten als auch die Bundesregierung reagierten erst Tage später
mit Protesterklärungen. Dem Regierenden Bürgermeister Willy Brandt fiel
die unangenehme Aufgabe zu, die Bürger West-Berlins zu beruhigen. Zahlreiche
West- und Ost-Berliner waren empört, doch rechneten viele nicht damit,
daß die Teilung der Stadt wirklich lange dauern würde. In Ost-Berlin
und der DDR kam es in den folgenden drei Wochen zu über 6000 Festnahmen
wegen vereinzelter Proteste, jedoch zu keinen Streiks und Massenaktionen.
Dass die Menschen angesichts einer so einschneidenden Maßnahme vergleichsweise
passiv blieben, wird in sehr viel mehr Fällen mit Resignation zu erklären
sein als mit positiven Erwartungen an die neue Situation, die erzwungene
Ankunft im Alltag der DDR.
Die DDR-Presse verbreitete zwar
u.a. mit Leserbriefen das Bild rückhaltloser und sogar begeisterter
Zustimmung - tatsächlich jedoch wurden DDR-Bürger, die ihre Unterschrift
unter Zustimmungserklärungen verweigert hatten, in exemplarischen Fällen
zu Arbeitserziehung in Arbeitslagern verurteilt.
Da die Grenzsicherungen erst nach
und nach ausgebaut wurden, gab es in den ersten Wochen noch sehr viel
mehr Möglichkeiten zu fliehen als später. So sammelten West-Berliner
Studenten die Pässe von Mitstudenten ein und holten den Passbildern
ähnlich sehende Ost-Berliner "rüber". Anderen gelang die Flucht durch
die Kanalisation. Am 22.8.1961 wurde die "Anwendung der Waffe" gegen
Flüchtlinge befohlen. Zwei Tage später erschossen Transportpolizisten
den 24-jährigen Günter Litfin, als dieser versuchte, durch die Spree
nach West-Berlin zu schwimmen. Auch durch Fluchtunfälle, etwa beim Sprung
aus dem Fenster in der Bernauer Straße, kostete die "Berliner Mauer"
von Anbeginn an Menschenleben. Die erste Stein-Mauer entstand einige
Tage nach dem 13. August. Die Bilder zeigen den Zaun, der zuerst errichtet
wurde, doch sind auf einigen Fotos bereits Steine zu sehen. Die Grenzbefestigungen
wurden bis 1989 fortlaufend erweitert und technisch perfektioniert.
Das, was "die Mauer" genannt wird, umfasste schließlich mehrere Mauern,
Zäune, KfZ-Sperrgraben oder Panzersperren, Kontrollstreifen (den so
genannten Todesstreifen), Hundelaufanlagen und Wachtürme sowie ein vorgelagertes
Grenzgebiet, das ohne Passierschein nicht betreten werden durfte. Vorerst
war die Mauer auch für West-Berliner nicht passierbar; erst zu Weihnachten
1963 gab es die Möglichkeit kurzer Verwandtenbesuche. Das Viermächte-Abkommen
und die innerdeutschen Vereinbarungen von 1972 erleichterten Reisen
von West-Berlinern nach Ost-Berlin und in die DDR schließlich auf Dauer.
In der offiziellen DDR-Sprachregelung hieß die tödliche Grenze seit
dem ersten Jahrestag ihrer Errichtung "Antifaschistischer Schutzwall"
und wurde stets eine Maßnahme zur Rettung des Friedens genannt.
1961 bis 1989 starben an der "Berliner
Mauer" mindestens 239 Flüchtende; 16 DDR-Grenzposten wurden bei ihrem
Dienst erschossen, die meisten von ihnen durch Fluchthelfer (siehe dazu
aber auch den Kommentar zu Bild 11). Insgesamt forderte die Ost-West-Grenze
ungefähr eintausend Todesopfer. Mindestens 70.000 Menschen sind seit
1961 in der DDR wegen "Republikflucht" oder "Beihilfe" zu dieser verurteilt
worden.
Den 13. August 1961 haben sowohl
ost- als auch westdeutsche Historiker stets als Schlüsseldatum bei der
Periodisierung der DDR-Geschichte betrachtet; eine Wertung, die sich
mit den Erinnerungen der vielen Zeitgenossen deckt, die dieses Datum
als tiefen mentalen Einschnitt erlebten.
Die hier ausgewählten Fotografien
unterscheiden sich von den berühmten, dramatischen Motiven, sind jedoch
typisch für die Bilder Helwig-Wilsons vom 13. August 1961: Passanten
und Anwohner gleichermaßen als "Zaungäste" und Betroffene des historischen
Ereignisses sowie die ihren Aufgaben zuweilen fast schnoddrig nachgehenden
Grenzsoldaten, Kampfgruppenmitglieder und Polizisten.
Fotos