Ein für den westlichen Betrachter - gerade für Fotografen - auffälliges und zu den Erfahrungen wohl jedes DDR-Bürgers gehörendes Erscheinungsbild des politischen Lebens in Vergrößert Bild 20 + Bildunterschrift und Kommentareder DDR waren die regelmäßig wiederkehrenden, staatlich organisierten und reglementierten Großdemonstrationen. Kinder und Jugendliche, Sportler und Betriebsangehörige marschierten mit Transparenten und Fahnen zu bestimmten Anlässen die Hauptstraßen der Städte entlang, hin zu einer Tribüne, auf der sich in Berlin die Partei -und Staatsführung und in den Städten und Kleinstädten entsprechend die SED-Bezirks -und Kreisleitungen und Vertreter der lokalen staatlichen Institutionen postiert hatten. Machthaber auf der Tribüne und vorbeimarschierende Demonstranten winkten einander zu. Ein Ansager kündigte durch Lautsprecher an, welcher Betrieb, welche Schulen oder welcher Sportverein sich der Tribüne gerade näherte und skandierte die Hochrufe.
Bei der Gestaltung spielten Traditionen der Arbeiterbewegung eine Rolle, aber auch das sowjetische Vorbild. An äußerlichen Ähnlichkeiten mit nationalsozialistischen Aufzügen störte man sich von offizieller Seite nicht. Vergrößert Bild 21 + Bildunterschrift und Kommentare
Seit dem Beginn der 50er Jahre war die zunehmende Militarisierung in der DDR auch an der Gestaltung der Demonstrationen abzulesen. 1956 fand nach Gründung der Nationalen Volksarmee (NVA) erstmals eine Militärparade statt, wie sie fortan zu den großen Demonstrationszügen gehörte. Uniformen von Polizisten, Soldaten, Kampfgruppenmitgliedern und die uniformartige Kleidung von Pionieren und FDJlern gehörten unverwechselbar zu diesen Veranstaltungen, für die deshalb auch der Ausdruck "Aufmärsche" angemessen erscheint. Spontanes gab es dabei kaum. Die SED-Führung beschloß selbst die Losungen auf den Transparenten und gab diese zentral und verbindlich vor.

Vergrößert Bild 22 + Bildunterschrift und KommentareDie wichtigsten Anlässe waren Feiertage wie der 1.Mai und Gedenktage wie der 8.Mai und der 15.Januar - der Tag der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg 1919 (siehe Bild 29.) - oder besondere Ereignisse wie Staatsbesuche. Dabei gab es eine Hierarchie der Anlässe. Der 1.Mai, den bereits 1946 die SMAD (Sowjetische Militäradministration in Deutschland) zum offiziellen Feiertag erklärt hatte, wurde alljährlich im ganzen Land mit großen Demonstrationen und seit 1956 mit Militärparaden begangen. Am 7.Oktober - dem Jahrestag der Gründung der DDR - fanden erst seit 1959 und nur bei runden "Republiksgeburtstagen" derart große Aufmärsche mit Militärparaden statt. Sowjetische Staatsbesucher wurden aufwendiger empfangen als andere. In der Hauptstadt Berlin gab es besonders zahlreiche und große Aufmärsche.

Dadurch, dass die Demonstrationszüge auf der Basis von Schulen, Betrieben, Sportvereinen usw. organisiert waren, warVergrößert Bild 23 + Bildunterschrift und Kommentare Kontrolle über die Teilnahme der einzelnen gegeben. Am Rande oder im Anschluß gab es Angebote in der Art von Straßenfesten, welche diese Veranstaltungen attraktiver machten. Die Feierlichkeit der Inszenierung stand im Gegensatz zu der Tatsache, dass die Teilnahme oft als lästige Pflicht "abgehakt" wurde.

Vergrößert Bild 24 + Bildunterschrift und KommentareDie Aufmärsche setzten an bestimmten kalendarisch vorgegebenen Tagen eine festartig konzipierte Begegnung von Machtelite und Bevölkerung in Szene. In dieser speziellen Form war die Ritualisierung der Kommunikation zwischen Staatsführung und Bevölkerung von Anbeginn zugespitzt. Das gegenseitige Zuwinken symbolisierte einerseits Fürsorge seitens der Herrschenden und andererseits Zustimmung und Loyalität seitens der Beherrschten. Außerdem wurde so Familiarität gespielt. Bei gleichzeitig drohenden Sanktionen für die, die daran nicht teilnahmen und der Möglichkeit, die Teilnahme nur als Formalität "abzuhaken", war dies eine gewollte Illusion.
Vergrößert Bild 25 + Bildunterschrift und KommentareDer thematische Rahmen der Demonstrationen war auf die Vergangenheit (Todestag von Luxemburg und Liebknecht; Befreiung vom Nationalsozialismus) oder die Zukunft (weiterer Aufbau des Sozialismus/Kommunismus) bezogen.
Wenn es um die Gegenwart ging, dann vor Vergrößert Bild 26 + Bildunterschrift und Kommentareallem um die Auseinandersetzung mit dem als aggressiv und kriegerisch dargestellten Westen. Bei einer identitätsstiftend gedachten Abgrenzung von der "falschen" Vergangenheit und der "falschen" Gegenwart (Faschismus, Kapitalismus) und im Ausrichten an der "richtigen" Tradition und auf die Zukunft hin, blieben die konkreten Probleme der Gegenwart auf der Strecke. Freie Demonstrationen für konkrete Anliegen und von bestimmten Interessengruppen waren ohnehin nicht möglich, da bereits Vorbereitungen dazu nach verschiedenen Paragraphen strafrechtlich verfolgt werden konnten. Aber auch die Möglichkeit, die vorgegebenen Anlässe mit eigenen Interpretationen zu aktualisieren, existierte nicht.
Bei allem Revolutions-Pathos - als Auftrag aus der Vergangenheit oder als Rettung und Bereitung der Zukunft beschworen - bezeugten diese gleichbleibenden Demonstrationen ungewollt vielmehr eine Art Stillstand.


Die ausgewählten Motive sind nur wenige von den sehr zahlreichen Aufnahmen zu diesem Thema, die Helwig-Wilson gemacht hat. Auswahlkritierium war die Vielfalt von Assoziationen, die sich durch die Fotos eröffnen: von den Anklängen an uniformierte Hitlerjungen, über ein Stück jugendbewegter Atmosphäre mit wehenden Fahnen und Haaren hin zu der ungewöhnlichen Perspektive auf einen im Schneewirbel zusammenrückenden Menschenzug. Vergrößert Bild 28 + Bildunterschrift und Kommentare

Vergrößert Bild 27 + Bildunterschrift und KommentareFotos