Ein
für den westlichen Betrachter - gerade für Fotografen - auffälliges
und zu den Erfahrungen wohl jedes DDR-Bürgers gehörendes Erscheinungsbild
des politischen Lebens in
der
DDR waren die regelmäßig wiederkehrenden, staatlich organisierten und
reglementierten Großdemonstrationen. Kinder und Jugendliche, Sportler
und Betriebsangehörige marschierten mit Transparenten und Fahnen zu
bestimmten Anlässen die Hauptstraßen der Städte entlang, hin zu einer
Tribüne, auf der sich in Berlin die Partei -und Staatsführung und in
den Städten und Kleinstädten entsprechend die SED-Bezirks -und Kreisleitungen
und Vertreter der lokalen staatlichen Institutionen postiert hatten.
Machthaber auf der Tribüne und vorbeimarschierende Demonstranten winkten
einander zu. Ein Ansager kündigte durch Lautsprecher an, welcher Betrieb,
welche Schulen oder welcher Sportverein sich der Tribüne gerade näherte
und skandierte die Hochrufe.
Bei der Gestaltung spielten Traditionen der Arbeiterbewegung eine Rolle,
aber auch das sowjetische Vorbild. An äußerlichen Ähnlichkeiten mit
nationalsozialistischen Aufzügen störte man sich von offizieller Seite
nicht. 
Seit dem Beginn der 50er Jahre war die zunehmende Militarisierung in
der DDR auch an der Gestaltung der Demonstrationen abzulesen. 1956 fand
nach Gründung der Nationalen Volksarmee (NVA) erstmals eine Militärparade
statt, wie sie fortan zu den großen Demonstrationszügen gehörte. Uniformen
von Polizisten, Soldaten, Kampfgruppenmitgliedern und die uniformartige
Kleidung von Pionieren und FDJlern gehörten unverwechselbar zu diesen
Veranstaltungen, für die deshalb auch der Ausdruck "Aufmärsche" angemessen
erscheint. Spontanes gab es dabei kaum. Die SED-Führung beschloß selbst
die Losungen auf den Transparenten und gab diese zentral und verbindlich
vor.
Die
wichtigsten Anlässe waren Feiertage wie der 1.Mai und Gedenktage wie
der 8.Mai und der 15.Januar - der Tag der Ermordung von Karl Liebknecht
und Rosa Luxemburg 1919 (siehe Bild 29.) - oder besondere Ereignisse
wie Staatsbesuche. Dabei gab es eine Hierarchie der Anlässe. Der 1.Mai,
den bereits 1946 die SMAD (Sowjetische Militäradministration in Deutschland)
zum offiziellen Feiertag erklärt hatte, wurde alljährlich im ganzen
Land mit großen Demonstrationen und seit 1956 mit Militärparaden begangen.
Am 7.Oktober - dem Jahrestag der Gründung der DDR - fanden erst seit
1959 und nur bei runden "Republiksgeburtstagen" derart große Aufmärsche
mit Militärparaden statt. Sowjetische Staatsbesucher wurden aufwendiger
empfangen als andere. In der Hauptstadt Berlin gab es besonders zahlreiche
und große Aufmärsche.
Dadurch,
dass die Demonstrationszüge auf der Basis von Schulen, Betrieben, Sportvereinen
usw. organisiert waren, war
Kontrolle über die Teilnahme der einzelnen gegeben. Am Rande oder im
Anschluß gab es Angebote in der Art von Straßenfesten, welche diese
Veranstaltungen attraktiver machten. Die Feierlichkeit der Inszenierung
stand im Gegensatz zu der Tatsache, dass die Teilnahme oft als lästige
Pflicht "abgehakt" wurde.
Die
Aufmärsche setzten an bestimmten kalendarisch vorgegebenen Tagen eine
festartig konzipierte Begegnung von Machtelite und Bevölkerung in Szene.
In dieser speziellen Form war die Ritualisierung der Kommunikation zwischen
Staatsführung und Bevölkerung von Anbeginn zugespitzt. Das gegenseitige
Zuwinken symbolisierte einerseits Fürsorge seitens der Herrschenden
und andererseits Zustimmung und Loyalität seitens der Beherrschten.
Außerdem wurde so Familiarität gespielt. Bei gleichzeitig drohenden
Sanktionen für die, die daran nicht teilnahmen und der Möglichkeit,
die Teilnahme nur als Formalität "abzuhaken", war dies
eine gewollte Illusion.
Der
thematische Rahmen der Demonstrationen war auf die Vergangenheit (Todestag
von Luxemburg und Liebknecht; Befreiung vom Nationalsozialismus) oder
die Zukunft (weiterer Aufbau des Sozialismus/Kommunismus) bezogen.
Wenn es um die Gegenwart ging, dann vor
allem
um die Auseinandersetzung mit dem als aggressiv und kriegerisch dargestellten
Westen. Bei einer identitätsstiftend gedachten Abgrenzung von der "falschen"
Vergangenheit und der "falschen" Gegenwart (Faschismus, Kapitalismus)
und im Ausrichten an der "richtigen" Tradition und auf die Zukunft hin,
blieben die konkreten Probleme der Gegenwart auf der Strecke. Freie
Demonstrationen für konkrete Anliegen und von bestimmten Interessengruppen
waren ohnehin nicht möglich, da bereits Vorbereitungen dazu nach verschiedenen
Paragraphen strafrechtlich verfolgt werden konnten. Aber auch die Möglichkeit,
die vorgegebenen Anlässe mit eigenen Interpretationen zu aktualisieren,
existierte nicht.
Bei
allem Revolutions-Pathos - als Auftrag aus der Vergangenheit oder als
Rettung und Bereitung der Zukunft beschworen - bezeugten diese gleichbleibenden
Demonstrationen ungewollt vielmehr eine Art Stillstand.
Die
ausgewählten Motive sind nur wenige von den sehr zahlreichen Aufnahmen
zu diesem Thema, die Helwig-Wilson gemacht hat. Auswahlkritierium war
die Vielfalt von Assoziationen, die sich durch die Fotos eröffnen: von
den Anklängen an uniformierte Hitlerjungen, über ein Stück jugendbewegter
Atmosphäre mit wehenden Fahnen und Haaren hin zu der ungewöhnlichen
Perspektive auf einen im Schneewirbel zusammenrückenden Menschenzug.
Fotos